Nachruf Theo Öhlinger (1939-2023)
Am 10. Dezember 2023 ist Theo Öhlinger, ein Doyen des Staats- und Verwaltungsrechts, im 85. Lebensjahr verstorben. Mit ihm verliert die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien eine herausragende Lehr- und Forschungspersönlichkeit, die im Verfassungs- und Verwaltungsrecht, aber auch im Europarecht tiefe Spuren hinterlassen hat. Theo Öhlinger war in allen Teilbereichen des öffentlichen Rechts zuhause, ganz besonders im Verfassungsrecht in dessen Funktion als ordnender Kraft des Gemeinwesens. Grundlegende Beiträge zu Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechten und Bundesstaat belegen diese Verbundenheit zur Idee der Verfassung. Zugleich war Theo Öhlinger immer an Schnittstellen interessiert, allen voran zum Völker- und Europarecht, womit er den österreichischen Beitritt zur Europäischen Union und die Europäisierung der österreichischen Rechtsordnung nach 1995 bis in die jüngste Zeit wissenschaftlich begleitet hat. Aber auch die zahlreichen Schnittstellen zwischen innerstaatlichem Verfassungs- und Verwaltungsrecht waren stets im Fokus seiner Forschung.
Geboren wurde Theo Öhlinger am 22. Juni 1939 in Ried im Innkreis. Nach Schul- und Studienzeit in Wien und Innsbruck (Philosophie sowie Rechts- und Staatswissenschaften) begann er seine akademische Karriere 1966 an der Universität Innsbruck, zunächst im Römischen Recht, dann alsbald im Öffentlichen Recht. In seiner Tätigkeit im Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst (1967 bis 1972) gewann er praktische Einsichten in das Zusammenwirken von innerstaatlichem und internationalem Recht, das ihn fortan wissenschaftlich begleiten sollte. Sie legten den Grundstein für seine Habilitation an der Universität Innsbruck im Jahr 1972 zum Thema „Der völkerrechtliche Vertrag im staatlichen Recht. Eine theoretische, dogmatische und vergleichende Untersuchung am Beispiel Österreichs“. Dieses visionäre Forschungsprofil fand rasch Ausdruck in der Ernennung zum ao. Universitätsprofessor für Europarecht und zum Leiter der Abteilung „Europarecht“ an der Universität Innsbruck. 1974 folgte er dem Ruf als o. Universitätsprofessor für Öffentliches Recht an die Universität Wien. Das Institut für Staats- und Verwaltungsrecht wurde damit seine wissenschaftliche Heimat, der er weit über seine Emeritierung im Jahr 2007 hinaus eng verbunden blieb.
Auf einem festen methodischen Fundament stehend, pflegte Theo Öhlinger eine nur der Sache verpflichtete Auseinandersetzung mit rechtstheoretischen ebenso wie rechtsdogmatischen Fragen des gesamten öffentlichen Rechts in seiner internationalen und europäischen Dimension. Er war dabei zutiefst überzeugt von der sozialen Funktion des Rechts. Daraus erklärt sich seine tiefschürfende Beschäftigung mit den Grund- und Freiheitsrechten ebenso wie sein Eintreten für den Schutz Schwächerer in der Gesellschaft. Sichtbar wurde dies in Fragen der demokratischen Teilhabe und des Rechtsstaats. „Demokratie und sozialer Rechtsstaat in Europa“ war denn auch der Titel der Festschrift, die seine Schülerinnen und Schüler ihm zum 65. Geburtstag im Jahr 2004 widmeten.
Theo Öhlinger hat auch die akademische Selbstverwaltung immer mit wachem Auge begleitet und mitgestaltet. Der Fakultät diente er von 1985 bis 1987 als Dekan, dem Institut für Staats- und Verwaltungsrecht von 1995 bis 2005 als Institutsvorstand. Lange, bevor man von einer „third mission“ sprach, übte Theo Öhlinger bereits zahlreiche Funktionen in der wissenschaftlichen Praxis aus: So war er – um nur die wichtigsten zu nennen – Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofs (1977 bis 1989), Mitglied des „Committee of Independent Experts“ der Europäischen Sozialcharta (1984 bis 1990), Direktor der Verwaltungsakademie des Bundes (1989 bis 1995), Mitglied des Österreich-Konvents (2003 bis 2005) und der Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform im Bundeskanzleramt (2007/2008) sowie Berater für zwei Erste Präsidentinnen des Nationalrates (2008 bis 2017). Seine reichhaltigen Aktivitäten auf dem Feld der Gesetzgebungslehre führten gemeinsam mit Heinz Schäffer zur Gründung der „Österreichischen Gesellschaft für Gesetzgebungslehre“ (ÖGGL).
Herausragend waren Theo Öhlingers Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet des Internationalen und Vergleichenden Verfassungsrechts. Seine Kontakte führten ihn wahrlich rund um den Globus, so übte er Gastprofessuren unter anderem an den Universitäten Paris-Nanterre, Fribourg und Aix-en-Provence sowie an der Dickinson School of Law der Pennsylvania State University aus, mit der er eine langjährige Kooperation für die Fakultät ins Werk setzte. Auch war Theo Öhlinger langjähriges Vorstandsmitglied der „International Association of Constitutional Law“ (IACL, 1992 bis 2004). Im deutschsprachigen Raum ist im Besonderen sein Engagement in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer hervorzuheben. Theo Öhlinger hatte die seltene Ehre, gleich zweimal auf Tagungen der Vereinigung zu referieren, in München 1986 zum Thema „Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung“ und in Dresden 1996 zum Thema „Kontrolle der auswärtigen Gewalt“. Auch die Aktivitäten der IGKK hat Theo Öhlinger von allem Anfang an tatkräftig unterstützt und war jahrelang im Vorstand vertreten.
All diese Aktivitäten wurden gesellschaftlich hoch geschätzt und führten zu zahlreichen Ehrungen, wie dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse (2011), dem Officier dans l´Ordre des Palmes académiques (2011), dem Chevalier dans l´Ordre de la Légion d´Honneur (2012) sowie dem Wilhelm Hartel-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2019).
Dem Ideal der Verbindung von Forschung und Lehre verschrieb sich Theo Öhlinger von Anfang an. Er war ein Universitätslehrer aus Leidenschaft, der seinen Studierenden ebenso wie seinen Schülerinnen und Schülern die Kunst der Abwägung im öffentlichen Recht vermittelt und vorgelebt hat, wie man das Wichtige vom weniger Wichtigen trennt, mithin den Blick für das Wesentliche schärft. Generationen von Juristinnen und Juristen sind mit seinem Lehrbuch „Verfassungsrecht“, erstmals 1993 und mittlerweile in Co-Autorenschaft mit Harald Eberhard 2022 in 13. Auflage erschienen, „groß“ geworden. Auch sein mit Michael Potacs und Harald Eberhard verfasstes Standardwerk zu „EU-Recht und staatlichem Recht“, 2023 in 8. Auflage erschienen, hat seinen festen Platz in der Landschaft der öffentlich-rechtlichen Literatur. Theo Öhlingers Lehre, sein didaktisches Opus, ist bleibend, in einem doppelten Sinn. Sie lebt in seinen früheren Studierenden, Schülerinnen und Schülern, aber auch als Werk weiter.
Als akademischer Lehrer war Theo Öhlinger weit mehr als ein bloßer Dienstvorgesetzter. Er war immer für „seine“ Leute da, unabhängig von den Mühseligkeiten des Alltags, mit Empathie stand er ihnen auch in schwierigen Phasen bei. Er hat seine Schülerinnen und Schüler gefordert und gefördert, aber nie eingeengt oder gar indoktriniert. Die Freiheiten, die er eingeräumt hat, haben kreatives Denken erst ermöglicht, das Bewusstsein für Gefahren geschärft, aber auch den Mut gegeben, alle Klippen der Wissenschaft zu meistern.
Das Bild wäre nicht komplett, würde man nicht zwei zentrale Kraftquellen Theo Öhlingers nennen. Zunächst seine Liebe zur Kunst und vor allem zur Malerei: Seit seiner Kindheit hat er aus ihr Inspiration bezogen, und eigentlich wollte er sogar Kunstgeschichte studieren – eine Entscheidung, die er revidiert hat, zum großen Vorteil der Rechtswissenschaft. Doch auch als Jurist zog es Theo Öhlinger bei wissenschaftlichen Problemen in die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums (KHM), einer Institution, der er über Jahrzehnte auf das Engste verbunden war, nicht zuletzt als stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums des KHM (2002 bis 2019). Seine musische Ader prägte Theo Öhlinger entscheidend. Eine gute Juristin, einen guten Juristen machte für ihn aus, dass man sich auch für anderes als die Juristerei interessiert. Die Entbindung von seinen Pflichten als Professor gab seiner Leidenschaft für die Kunst noch mehr Raum, und es spricht für sich, dass er seine Abschiedsvorlesung im Jahr 2008 über die „Museen und das Recht“ gehalten hat.
Tief ausgeprägt war schließlich Theo Öhlingers Familiensinn und die Kraft, die er aus dem innigen Verhältnis zu seiner Gattin und seinem Familienleben bezog. Wer verfolgte, wie aufmerksam er in den letzten Jahren das Heranwachsen seiner Enkelkinder begleitet hat, der bekam davon einen mehr als sichtbaren Eindruck.
Ein überaus reiches und erfülltes Leben hat sich vollendet. Zurück bleibt tiefe Dankbarkeit derer, die daran teilhaben durften.
Harald Eberhard